Gott vergisst seine Kinder nie !

Kann auch eine Mutter ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie desselben vergäße, so will Ich doch deiner nicht vergessen. Jes.49,15

 

Das traurige Zion, die Schar der Gläubigen des Herrn, hatte im vorhergehenden Verse jämmerlich geklagt: „Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen.“ Darauf antwortet der Herr so, als ob Zions Klage wie die eines Menschen sei, der einsam in einem Walde geht, mit sich selber redet und seine Not gleichsam den Bergen und Bäumen im Walde klagt, und dann ertönt die Antwort des Herrn wie ein Echo in den Bergen. Zion hört eine Stimme, sieht aber nicht den, der da redet. Und wie bei einem Echo, von dem wir wissen, dass es auf das letzte und nicht auf das erste Wort antwortet, ist es auch hier. Zion hat gesagt: „Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen!“ Dieses letzte Wort „meiner vergessen“ greift der Herr auf: „Was redest du? Meiner vergessen? Kann auch eine Mutter ihr Kindlein vergessen?“

 

Er antwortet nicht auf das erste Wort „mich verlassen“; denn das ist wohl möglich, dass der Herr eine Zeitlang Seine Kinder verlässt oder sich so stellen kann, als habe Er sie verlassen, indem Er ihnen Sein Antlitz verbirgt, sich in der Zeit der Not verbirgt. Aber es ist geradezu unmöglich, dass Er sie auch nur einen Augenblick vergessen könnte.

 

Darüber wundert der treue Gott sich also nicht, dass gesagt wird: „Der Herr hat mich verlassen“; dass Zion aber zugleich sagen will: „Der Herr hat meiner vergessen“, das kann Er nicht dulden; das ist zu hart geredet; das will Er von sich abwenden. „Kann auch eine Mutter ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie desselben vergäße, so will Ich doch deiner nicht vergessen. Siehe, in die Hände habe Ich dich gezeichnet!“

 

Der Herr gibt also in diesen Worten genügend zu erkennen, dass Er Sein Zion weder vergessen kann noch will. Er kann nicht. Ebenso wenig wie eine Mutter ihr Kindlein vergessen kann, kann auch Er es nicht tun; und wenn sie es auch könnte, so will Er es doch nicht. „Ob sie desselben vergäße, so will Ich doch deiner nicht vergessen.“

 

Und Er zeigt auch die Ursache, weshalb Er weder will noch kann, ebenso wenig wie Er kann noch will; denn Er spricht: „In die Hände habe Ich dich gezeichnet!“ Wie könnte Ich dann deiner vergessen, wie würde Ich es dann wollen? An anderen Stellen zeigt Er, dass Er auch die Liebe eines Vaters hegt; aber das ist nicht genug; Er hat eine größere, Er hat eine zärtlichere Liebe, Er hat die Mutterliebe. „Kann auch eine Mutter ihres Kindes vergessen?“ Ja, Er zeigt, dass Er noch größere Liebe als die einer Mutter hat: „Ob sie desselben vergäße (also schließt Er die Möglichkeit nicht aus, dass eine Mutter dies jemals tun könnte), so will Ich doch deiner nicht vergessen.“ Er zeigt, dass Seine Liebe unendlich und unvergleichlich ist, da sie größer ist als die Liebe einer Mutter.

 

Dies ist nun der tiefste Grund aller jener Güte, Gnade und Barmherzigkeit, die Gott der Herr dem menschlichen Geschlecht von Erschaffung der Welt an erwiesen hat, nämlich die so ganz besondere Liebe Seines eigenen Wesens, eine Liebe, die noch kein Mensch begreifen konnte, weil niemand etwas erfahren hat, was dieser Liebe gleich sein könnte; denn sie ist dem Wesen Gottes gleich, unermesslich, unendlich, unfassbar. Aus dieser Liebe Seines hohen Wesens erschuf Gott den Menschen, so kostbar ausgerüstet und so reich mit allem umgeben, was er nötig haben konnte und wovon die Natur redet.

 

Aus dieser Liebe sandte Er der Welt Seinen Sohn zum Heiland, als sie sich durch die Versündigung gegen den Schöpfer eine gerechte Verdammnis zugezogen hatte, wie Jesus spricht: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass Er Seinen eingeborenen Sohn gab.“

 

Aus dieser Liebe hat Er die größten Sünder nicht nur angenommen, sondern sie auch selber gesucht, wie Jesus uns am Beispiel jenes Vaters zeigt, der seinem unwürdigen, erniedrigten Sohn entgegenlief, ihm um den Hals fiel, ihn küsste und ausrief: „Nun muss man fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden.“

 

Dieselbe Gottesliebe redet hier: „Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen?“ Wer kann diese Liebe wohl ganz begreifen oder ausreden? Johannes konnte sich darüber nicht anders ausdrücken, als dass Gott die Liebe sei - „Gott ist die Liebe.“

 

Diese Liebe war der erste Grund, weshalb Gott uns nie vergessen kann oder nie aufhören kann, an uns zu denken. Der andere Umstand, auf den Er hier die Aufmerksamkeit Seines armen Zions lenkt, ist der, dass das Kind vom Leibe der Mutter gekommen ist. Er sagt: „Der Sohn ihres Leibes“. Dieser Gedanke war schon vollständig mit dem Worte „Kindlein“ ausgedrückt. Der Zusatz: „Sohn ihres Leibes“ sollte nur an ein dem Mutterherzen sehr nahegehendes Verhältnis erinnern. Da der Herr aber mit alledem Sein Verhältnis zum Menschen bezeichnen will, so werden wir hier an einen höchst denkwürdigen und trostreichen Umstand erinnert: Der Mensch ist Leibessohn des großen Gottes.

 

Oder woher ist er sonst gekommen? Woher sind wir?

 

Dieses merkwürdige Geschlecht auf Erden, der Mensch - woher ist er gekommen, wenn nicht aus Gott? Und eben das ist der tiefe, ewige Grund, weshalb Gott uns nicht vergessen kann.

 

Er lässt mich nicht!

Und wenn mich alle auch verlassen,

Wenn Treue nur ein Wahn auf Erden wird,

Dann wird, dann muss der himmlisch treue Hirt

Nur fester noch Sein armes Lamm umfassen;

Das Hirtenherz ist meine Zuversicht,

 

Er lässt mich nicht.

Entnommen aus dem Buch von Mag. Olof Rosenius – ‘‘Tägliches Seelenbrot‘‘

(herausgegeben von LUTH. MISSIONSVEREIN SCHLESWIG-HOLSTEIN E.V. http://www.rosenius.de)