Ort der Meinungsfreiheit

 

Rolf Müller

 

Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, vor allem dann, wenn man die Meinung auch aussprechen will. Nicht hinter vorgehaltener Hand, sondern offen und ungestraft. In der ehemaligen DDR gab es nur ein "betreutes Denken" im Dunstkreis der Partei, die immer recht hatte. Querdenker mit abweichender Meinung wurden nicht geduldet. Volksvertreter treten das Volk.

 

In der Politik gilt das gebrochene Wort. Eher legt sich ein Mops einen Vorrat an Würstchen an, bevor ein Politiker spart. Sie wissen nie genau,  was sie gesagt haben,  bevor sie nicht eine Antwort hören auf das, was sie gesagt haben. Politiker sind immer auf das vorbereitet, was sie anrichten wollen: auf das Schlimmste. Sie verwenden Bandwurmsätze, an deren Ende man nicht mehr weiß, womit sie begonnen haben.

 

Wir Menschen glauben nur das, was wir glauben wollen. Es gibt Dinge, die wollen wir schlicht nicht hören. Natürlich kann man Rot auch Blau nennen. Aber ein Maulwurf bleibt ein Maulwurf, auch wenn er lieber eine Giraffe wäre.

 

Der alte Mann hat festgestellt, dass es um die Meinungsfreiheit nicht gut bestellt ist. Wer offen sagen will, was er denkt, muss bedenken, was er sagt, damit er sich nicht um Kopf und Kragen redet. Die Gedanken sind frei? Wirklich? Alles, was wir sagen, sollte wahr sein, aber nicht alles, was wahr ist, sollten wir sagen.

 

Der alte Mann hat deshalb in seiner Wohnung einen Raum der Meinungsfreiheit eingerichtet. Ein entsprechender Aufkleber macht darauf aufmerksam. Dieser Raum ist gekachelt, hat ein großes Fenster mit Blick auf Gärten und große Bäume. Die Einrichtung ist eher bescheiden.

 

Eine Waschmaschine, eine Badewanne, ein Waschbecken mit Spiegelschrank, ein WC, eine Wäschemangel. Der einzige Schmuck ist ein 50 mal 70 cm großes Puzzle mit einer Blumenwiese im Vordergrund, Hochgebirge und Wolken. Die Tür zum Ort der Meinungsfreiheit ist stabil und von innen abschließbar. Man geht in der Regel einzeln hinein.

 

Dort kann man seine Meinung unbedenklich äußern. Es dringt nichts hinein und nichts heraus. Geräusche und Gerüche bleiben im Raum. Man kann alles, was einen bedrückt, in aller Freiheit unbedenklich abladen. Man geht belastet hinein und erleichtert wieder heraus. Man kann die Augen schließen oder die Vorhänge vor das Fenster ziehen. Man hat alle Freiheit der Welt.

 

Auch Besucher und Gäste haben den Ort der Meinungsfreiheit schon genutzt und ihn erleichtert wieder verlassen. Wir sind dankbar, dass wir ihn haben. Wir möchten ihn nicht vermissen. Er ist praktisch, rechteckig, gut. Er dient als Rückzugsort für alle Fälle. 

 

Einen ähnlichen Ort wird es wahrscheinlich in vielen Wohnungen geben. Das Besondere an unserem Raum ist der Name: Ort der Meinungsfreiheit.