Psalm und Hirte

 

Sie waren zusammen zur Schule gegangen. Der eine war Prediger geworden und sollte nun bald in den Ruhestand versetzt werden. Ein berühmter Redner war er nie; wohl aber hatte er Sonntag für Sonntag mit ganzem Herzen das Evangelium in schlichter Art verkündigt. Der andere, sein Schulfreund, war zum Theater gegangen und ein bekannter Schauspieler und Vortragskünstler geworden. Er kam aus einer gläubigen Familie und war das, was er in seiner Jugend gehört hatte, nie ganz losgeworden, obwohl er es über seiner Arbeit fast vergessen hatte. Auch er war am Ende seiner Laufbahn angekommen und man bereitete ihm eine Abschiedsfeier vor.

 

Man bat ihn, seine Freunde selbst einzuladen, und so schrieb er auch an seinen Schulkameraden, den Prediger. Nach einigem Widerstreben nahm dieser die Einladung an. Es wollte ihm gar nicht gefallen, in Gesellschaft von Schauspielern zu kommen. Aber schließlich beschloss er doch hinzugehen, weil er es so nett fand, dass sein alter Schulfreund ihn nicht vergessen hatte.

 

Der Prediger saß zwischen zwei Schauspielern, und die Unterhaltung war sehr angenehm. Gegen Ende der Feier wurde der Jubilar gebeten, den Gästen etwas vorzutragen. Er willigte ein mit der Bedingung, dass sein Schulkamerad dasselbe tun dürfe.

 

Der gefeierte Mann wählte den 23. Psalm. Warum er gerade den Hirtenpsalm nahm, wusste er selbst nicht zu erklären. Vielleicht spielten dabei Erinnerungen an seine Jugend und an sein Elternhaus eine Rolle. Wer weiß?

 

Was auch immer, er sprach die bekannten Worte auf unnachahmliche Weise, und anhaltender Applaus folgte. Danach stand der alte Prediger auf, eine etwas schüchterne, wenig imponierende Gestalt. Er holte seine viel gebrauchte Bibel hervor und las denselben Psalm nur einfach vor, wie er es häufig an Sterbebetten getan hatte. Es wurde still, stiller als vorhin; und nach den letzten Worten: "Und ich werde wohnen im Haus des Herrn auf immerdar", blieb es still.

 

Da stand der Schauspieler auf, gab seinem alten Schulkameraden die Hand und sagte zu den Gästen: "Wisst ihr was der Unterschied ist? Ich kenne den Psalm, aber er kennt den Hirten."