70 x 7 mal sollst Du deinem Bruder vergeben

Vergebet einer dem andern, gleichwie Gott euch vergeben hat in Christus! - Eph. 4, 32

 

Wir sehen hier die entscheidende Bedeutung der Worte Luthers: „Christi Reich ist ein Reich der Vergebung“, wenn wir sie auf das gegenseitige Vergeben zwischen den Menschen als einer Bedingung alles christlichen Gemeinschaftslebens auf Erden anwenden. Wir wissen, dass die Summe des Gesetzes die Liebe ist. Paulus sagt: „Wer da liebt, der hat das Gesetz erfüllt. Denn was da gesagt ist: Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch Zeugnis geben, dich soll nicht gelüsten, und so ein ander Gebot mehr ist, das wird in diesem Worte verfasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.“

 

Das ganze christliche Leben ist also in der Liebe enthalten. Was ist aber die Bedingung einer ständigen Liebe zwischen den Menschen? Eben dasselbe, was die Bedingung einer beständigen Freundschaft zwischen Gott und den Menschen ist, nämlich die beständige Vergebung. Man würde gern seine Mitmenschen lieben, und man würde ein Himmelreich auf Erden haben voller Freude und Liebe zwischen den Mitmenschen, Hausleuten und Nachbarn, wenn sie nur nicht ihre verdrießlichen Fehler und Unarten hätten. Durch diese ermüdet man aber in der Liebe und kann sie nicht lieben — und sogleich fällt es schwer, ihnen Gutes zu tun, während es dagegen immer leichtfällt, denen Gutes zu tun, die man liebt.

 

Dieses mächtige Hindernis für die Liebe, nämlich alle Fehler und Unarten des Nächsten, wäre mir sofort aus dem Wege geräumt, wenn ich nur das vortreffliche Mittel Vergebung“ anwendete. In anderer Weise kann das genannte Hindernis nicht weggeräumt werden. Dieses ist eine der Ursachen, weshalb Christus so ganz besonders und so oft von der Vergebung sprach und ausdrücklich sagte, dass das Himmelreich gleich sei einem Könige, der seinem Knecht die Schuld von zehntausend Pfund erließ, dann aber wollte, dass dieser seinem Mitknecht die Schuld von hundert Groschen auch erlassen sollte. Und als Er uns ein Gebet lehrte, das wir täglich beten sollten, da legte Er die gleiche Lehre hinein und gebot uns zu sagen: „Vergib uns unsere Schuld, gleichwie wir auch vergeben unseren Schuldigern.“ Jedermann merkt hieraus, dass Christus einen ganz besonderen Eifer um die Vergebung gehabt hat. Denn es ist nur die Vergebung, die in unserem gefallenen Zustand der einzige Grund eines guten Verhältnisses einmal zwischen Gott und dem Menschen, zum andern zwischen den Menschen untereinander ist.

 

Das ist die Summe des Wortes, so dass Johannes, als er in einem kurzen Spruch alles zusammenfassen wollte, sagte: „Das ist Sein Gebot, dass wir glauben an den Namen Seines Sohnes Jesus Christus und lieben uns untereinander, wie Er uns ein Gebot gegeben hat.“ So hat man Frieden mit Gott und den Brüdern; und das ist das Himmelreich auf Erden, das Paradies im Jammertal!

 

Dagegen welch eine Hölle auf Erden, welche peinigenden, nagenden Qualen, welche finsteren Herzen und Angesichter, welcher Hass und Neid und welche Unruhe, wo man diese Stücke nicht übt, weder glaubt noch liebt, vielmehr in eigenen Sünden und in den Fehlern anderer wühlt und dazu noch im Unglauben und in der Unversöhnlichkeit lebt! Solche Menschen sind bedauernswerte Märtyrer des Teufels! Und doch könnte allem durch Vergebung abgeholfen werden! Wenn du auch noch so garstige Mitmenschen hast und sie dir noch so schweres Unrecht zugefügt, dich belogen und beleidigt haben, so überlege doch ernstlich, ob deine eigenen Sünden gegen Gott nicht um ein Vielfaches schwerer und zahlreicher sind. Christus sagt, dass alles, was ein Mitmensch gegen dich versehen haben kann, im Vergleich zu deinen Schulden vor Gott nur wie hundert Groschen gegen zehntausend Pfund ist.

 

Und nun will Gott dir alle deine Schuld vergeben und erlassen, solltest du darum nicht auch deinem Nächsten alle seine Fehler vergeben? Willst du das nicht, willst du die hundert Groschen nicht erlassen und vergessen, so fordere sie ein, zähle die Fehler deines Nächsten; aber — nimm dann auch deine eigene Schuld vor dem Herrn, die zehntausend Pfund, wieder auf dich, und du sollst sie bezahlen bis auf den letzten Heller. So urteilt der Herr. Und wenn du nun um die Vergebung der Sünden bitten willst, dann wirst du nicht anders beten dürfen als: Vergib Du mir, o Gott, in derselben Weise, wie ich meinem Nächsten vergebe!

Sagst du nun: „Ich habe meinem Bruder so oft vergeben, er aber hört nie damit auf, mir zuwider zu tun, man muss wohl einmal des Vergebens müde werden“, so antwortet der Herr: „Auch Ich habe dir so oft vergeben, aber du sündigst noch; auch Ich muss dann ermüden, dir zu vergeben.“

 

Bemerkenswert ist hier die Antwort, die Petrus auf die Frage erhielt: „Wie oft muss ich denn meinem Bruder vergeben? Ist es genug siebenmal?“ — „Ich sage dir, nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal“, d.h. unendlich. Beachte hier zuerst zum Trost für dein eigenes Herz, dass Christus dir gewiss auch so vergeben wird, nämlich nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal oder ohne Aufhören; denn Er will gewiss selber das tun, was er uns zu tun lehrt. Er will uns im Vergeben gewiss nicht nachstehen. Sollte dies dich dann nicht erwärmen, so dass auch du deinem Bruder ohne Aufhören vergibst? Wisse: Hier ist kein anderer Rat, keine andere Hilfe als ein unausgesetztes, unendliches Vergeben; denn das ganze Reich Christi verbleibt ein Reich der Vergebung.

 

Schäflein, sucht einander so,

Eurem Hirten zum Vergnügen,

Lieb zu kriegen,

Wie Er’s euch vor Seinem Tod

Noch gebot,

Zum Beweis, dass ihr Ihn kennet

Und in Seiner Liebe brennet

Und Gemeinschaft habt mit Gott.

Entnommen aus dem Buch von Mag. Olof Rosenius – ‘‘Tägliches Seelenbrot‘‘

(herausgegeben von LUTH. MISSIONSVEREIN SCHLESWIG-HOLSTEIN E.V. http://www.rosenius.de)