Der alte Mann und die Evangelisation

 

Rolf Müller

 

In der Gemeinschaftsbewegung gab es von Anfang an zwei Ziele: Gemeinschaftspflege, Sammlung,  Evangelisation und Sendung. Es geht um Zurüstung und um Wachstum im Glauben innerhalb der Gemeinschaft. Die andere Seite ist das Zeugnis nach außen.

 

Der alte Mann hat überlegt, wann die letzte Evangelisationswoche in seiner Gemeinschaft stattfand. Das ist schon eine ganze Weile her. Das Resultat war ernüchternd. Der Besuch war mäßig. Es waren nur Gemeindeglieder anwesend. Der Redner sprach einseitig nur von der Liebe Gottes.

Der alte Mann erinnert sich, dass er sinngemäß sagte, Gott sei verliebt in uns. Wenn wir Menschen Gott ab und zu ein wenig Aufmerksamkeit schenken würden, sei er froh und dankbar. Von Schuld und Sünde, von Buße und Umkehr sprach der Referent nicht. Aus diesem Grund war der alte Mann fast erleichtert, dass keine Außenstehenden dabei waren. Sie hätten gehört, dass Gott sie liebt, wie sie sind. Welchen Grund hätten sie haben sollen, umzukehren?

Wenn immer nur Gottes grenzenlose Liebe im Mittelpunkt steht, dann ist ja alles gut. Dann kann ich bleiben, wie ich bin. Dem Sünder muss aber auch die Heiligkeit Gottes vor Augen gestellt werden, damit er seine Verlorenheit erkennt und nach Rettung verlangt.

 

Der alte Mann hatte die Gelegenheit, einen bekannten Evangelisten persönlich auf dieses Thema anzusprechen. In seiner Predigt kamen die Worte Schuld und Sünde des Menschen vor Gott nicht vor. Er sagte dem alten Mann, man könne nicht in jeder Predigt alle Themen der Bibel ansprechen. Da hatte er ja recht. Aber in einer speziellen evangelistischen Veranstaltung muss man damit rechnen, dass jemand nur an einem Abend anwesend ist. Aus diesem Grund findet der alte Mann, dass an jedem Abend dem Sünder seine Verlorenheit vor Gott klar gemacht werden muss. Erst auf dem Hintergrund der Sündenerkenntnis kann die Liebe Gottes umso heller erstrahlen.

 

Es geht beim Christsein nicht um ein oberflächliches Flirten mit Jesus. Dem alten Mann scheint es, viele betrachten Jesus als göttliche Krankenschwester, zu der man geht, wenn einen die Sünde verwundet hat.

Wenn man geholfen bekam, geht man wieder seine eigenen Wege. Das geht nicht. Entweder ist Christus Herr über alles oder er ist gar kein Herr. Wer denkt, er könne gelegentlich beschwingt kommen, sich helfen lassen und dann wieder abwenden, der irrt gewaltig. Gott ist kein Kellner, den man rufen kann, wenn man in Not ist und von dem man sich, wenn man geholfen bekam, wieder verabschiedet. Das ist Selbstbetrug. Wenn wir so denken, ist etwas grundsätzlich falsch an unserem sogenannten Glauben.

 

Christlicher Glaube stützt sich auf Gottes Wort. Wir können uns nicht heraussuchen, was uns gefällt und was nicht. Ein Nachfolger Jesu ist für seinen Herrn da. Das gilt natürlich auch für die christliche Gemeinde. Die Gemeinde Jesu muss sich nicht an die herrschende Kultur anpassen und für die Welt da sein. Das ist ein Missverständnis. Sie muss für ihren Herrn da sein. Sie ist beauftragt, das Evangelium zu bezeugen.

 

Das Feld ist weiß zur Ernte. Der alte Mann fragt sich, warum trotzdem so wenige zum Glauben kommen. Ist das Evangelium veraltet? Hat es seine Kraft verloren? Vielleicht hilft es, wenn wir uns anschauen, wie der Herr Jesus evangelisiert hat. Wenn der alte Mann die Begegnung des Herrn Jesus mit dem reichen Jüngling bedenkt, kommt er aus dem Staunen nicht heraus. So behandelt man doch keinen Suchenden! Statt ihn liebevoll in die Arme zu nehmen, stößt er ihn vor den Kopf. Der Herr Jesus würde heute an jeder Bibelschule im Fach Evangelisation durchfallen.

 

Der alte Mann merkt, dass es dem Herrn Jesus um die Ehre Gottes geht. Viele kennen Gott überhaupt nicht, deshalb muss man ihnen die Eigenschaften Gottes erklären, nicht nur einseitig seine Liebe.

Die heutige Verkündigung hat Mangelerscheinungen. Sie ist vitaminarm. Sie konzentriert sich zu sehr auf den Menschen. Der Herr Jesus setzt bei Gott und seiner Heiligkeit an.

 

Der alte Mann hat erkannt, dass es verkehrt ist, einem Menschen, der sich gegen Gott auflehnt, zu sagen: Gott liebt dich! Dem Sünder muss die Heiligkeit Gottes vor Augen gemalt werden. Er muss erkennen, dass er unter Gottes Zorn steht, wenn er nicht umkehrt und dem Herrn Jesus vertraut. Wenn er den ganzen Ratschluss Gottes hört, kann ihm der Herr das Herz auftun und Glauben schenken.  

 

Dass wir attraktive, anziehende Gottesdienste brauchen, ist zu einem Dogma geworden. Das Gemeindeleben wird vor allem auf Menschen ausgerichtet, die dem Glauben fernstehen. Alles, was bei ihnen Anstoß erregen könnte, wird vermieden. Leider bleibt das nicht auf Äußerlichkeiten beschränkt, sondern es betrifft auch den Inhalt der Botschaft.

 

Auf den Herrn Jesus kann man sich dabei nicht berufen. Von der ersten Gemeinde in Jerusalem heißt es überhaupt nicht besucherfreundlich: „Es kam eine große Furcht über alle, die es hörten, (…) von den übrigen aber wagte keiner, sich ihnen anzuschließen.“ (Apg. 5, 5+13). Ging deshalb die Gemeinde unter? Nein, im Gegenteil! Der Herr tat hinzu. Es kommt nicht auf moderne Methoden und kurzweilige Unterhaltung an, sondern auf die klare Verkündigung des Evangeliums.

 

 Jesus nimmt die Sünder an,

saget doch dies Trostwort allen,

welche von der rechten Bahn

auf verkehrten Weg verfallen.

Hier ist, was sie retten kann:

Jesus nimmt die Sünder an!

 

Keiner Gnade sind wir wert;

doch er hat in seinem Worte

eidlich sich dazu erklärt.

Sehet nur, die Gnadenpforte

ist hier völlig aufgetan:

Jesus nimmt die Sünder an.

 

Wenn ein Schaf verloren ist,

suchet es ein treuer Hirte,

Jesus, der uns nie vergisst,

suchet treulich das Verirrte,

dass es nicht verderben kann:

Jesus nimmt die Sünder an.

 

Kommet alle, kommet her,

kommet, ihr betrübten Sünder!

Jesus rufet euch, und er

macht aus Sündern Gottes Kinder.

Glaubets doch und denket dran:

Jesus nimmt die Sünder an.

 

Ich Betrübter komme hier

und bekenne meine Sünden;

lass mein Heiland, mich bei dir

Gnade zur Vergebung finden,

dass dies Wort mich trösten kann:

Jesus nimmt die Sünder an.

 

Jesus nimmt die Sünder an,

mich hat er auch angenommen

und den Himmel aufgetan,

dass ich selig zu ihm kommen

und auf den Trost sterben kann:

Jesus nimmt die Sünder an.

 

(Erdmann Neumeister).